Sich fiktionalisieren.
Das Problem war, dass ich der Zukunft nicht vertraute. Für mich war sie dieses Monster, das mich zugleich von außen erdrückte und mir im Magen rumorte. Stattdessen setzte ich alles auf die Vergangenheit, machte selbst meine Fehler, die Rückschläge, die Schmerzen und Trennungen erklärbar, gab ihnen einen höheren Stellenwert, der sie zu Prototypen machte, nach denen sich folglich alles zu richten hatte. Sie waren perfekt und alles, was nach ihnen kam, war es nicht.
Also blieb ich stehen. Ich ging der Zukunft nicht mehr entgegen und wollte der Vergangenheit so nah wie möglich bleiben. Ich lebte deshalb aber nicht in der Gegenwart, ich vergaß einfach, überhaupt zu leben. Jeden Tag musste ich mich daran erinnern, dass die Welt, dass Menschen Erwartungen an mich hatten. So lange ich konnte, verschob ich Termine, ließ Fristen verstreichen und sagte oft noch im letzten Moment ab, indem ich Übelkeit oder eine andere, gleichsam unspezifische Entschuldigung vorschob. Über die Zeit verlor ich viele Kontakte, ich antwortete nicht auf Nachrichten, war telefonisch praktisch nicht mehr zu erreichen (meine sowieso schon vorhandene Angst vor Telefongesprächen hatte sich nur noch verstärkt) und nach und nach wurde es mir zur Qual, Beziehungen zu anderen Menschen regelmäßig aufzufrischen, bis sich irgendwann keine Anküpfungspunkte mehr fanden.
Ich wusste, dass man mir hinter meinem Rücken Faulheit vorwurf. Sogar ich selbst sah in meinem Verhalten einen mangelnden Willen mich anzustrengen, aber es war mehr als das. Ich verweigerte jeden Schritt, der über etwas entscheiden konnte, ich verweigerte mich der Zukunft so gut es ging. Mir war bewusst, dass ich ihr nicht entgehen konnte, und gerade darum betrachtete ich alles nur noch unter diesem einen Aspekt. Alles, was ich wahrnahm, war das Ende der Dinge. Ich sah nur noch, wie jeder Mensch, jede Tat, jeder Gegenstand von der Zukunft verschluckt wurde. Und es machte mir Angst. Die Zukunft war eine Schlange und ich saß zitternd vor ihr, darauf wartend, dass sie mich verschlang.
Man könnte sagen, ich war traurig. Man könnte aber wohl genau so gut sagen, ich war wütend. Oder froh, zumindest auf eine gewisse Art, manchmal. Ich war alles. Oder einfacher: Ich war nichts. Wenn ich lachte, dann geschah es stets mit Hintergedanken. Ich sage nicht, dass ich eine Fassade aufbaute. Mein Umfeld nahm durchaus wahr, dass es mir nicht gut ging. Öffnete ich mich jemandem, fielen mir die Worte ungeschickt aus dem Mund und was ich sagte, musste für andere wie eine Ruine aus Bauklötzen aussehen, voller Löcher und Unverständlichkeiten. Hin und wieder half es mir, zu schreiben, aber auch hier musste ich feststellen, dass mir die Worte ausgingen, als würde ich ganz langsam austrocknen.
Einige Jahre zuvor hatte ich die Idee für einen Roman gehabt. Es ging um eine junge Studentin, ich nannte sie Noelle, und wann immer ich an die Geschichte dachte, sah ich sie in einer hellen Küche am Frühstückstisch sitzen, die Farben durch das Winterlicht im Fenster ausgebleicht, ihr Beine ineinander verschlungen, die Füße seitlich über die Stuhlkante ragend. Sie aß nicht, obwohl der Tisch vor ihr mit Brot, einem Glas Marmelade, Butter und Käse gedeckt war. Stattdessen sah sie aus dem Fenster, sah die Fensterreihen des gegenüberliegenden Gebäudes, die schwarzen Reifenspuren im Schnee auf dem Parkplatz davor. Irgendwo im Hintergrund lagen Bahngleise, sie konnte sie in jedem Fall sehen.
Leider schrieb ich diesen Roman nie. Ich träumte von ihm, konnte die Geschichte Schritt für Schritt vor mir sehen. Ich hatte mir sogar einen Titel ausgedacht: "Fünf Tage im Winter". Ich hielt das für einen schönen, einen passenden Titel. Aber jeder Versuch, alles niederzuschreiben, scheiterte, bis die Realität, oder besser bis ich, Noelle eingeholt hatte. Sie war immer so etwas wie ein Bild der Zukunft gewesen, eine Befürchtung, die ich als Schüler in der Oberstufe gehabt hatte. Gleichzeitig war ihre Geschichte auch eine romantische Idee, die ich vom Studium, vom Leben fern der Heimat, allein und erwachsen, hatte, und ich erwartete natürlich eine Lösung des eigenen erwarteten Leidens, wie ich sie für Noelle auch ganz selbstverständlich vorgesehen hatte: die Arme eines Menschen, die sie empfangen und halten, sodass die Haut unter der Kleidung ganz warm wird, dort wo sie berührt wird. Sie könnte sich niemals selbst retten. [...]
Und der Geschmack im Mund als Beweis für meinen Schlaf
Nur das Stechen in meinen Augen als Beweis, dass es zu wenig war